folgenden text habe ich aus der Süddeutschen Zeitung kopiert, der Autor heißt Sebastian Herrmann
Der Brauereimitarbeiter schloss ein Fass Dunkles an die Zapfanlage an, wies mit einer Kopfbewegung auf die Glaskrüge hin und bestätigte den anwesenden Gymnasiasten, dass die Brezn zum Verzehr freigegeben waren. Dann ging er und überließ die 15- und 16-jährigen Schüler dem Alkohol. Mindestens eine Lehrerin war zwar anwesend, doch die Aufsichtskraft zupfte nicht einmal an den Zügeln. Die Brauereiführung samt Verkostung ohne Mengenbegrenzung, wie sich herausstellte, stand auf dem Programm, als Jugendliche der französischen Partnerschule eines oberbayerischen Gymnasiums zum Austausch angereist waren.
Auf dem Rückweg hielt der Linienbus auf offener Strecke am Rand der Bundesstraße, ein paar sehr betrunkene Schüler mussten sich übergeben. Besondere Aufregung von Eltern, Pädagogen, Busfahrern oder anderen Beteiligten ist nicht überliefert. Klar, schön war die Situation für niemanden, aber großer Wirbel blieb aus. Angesichts der gegenwärtigen moralischen Dauerhyperventilation im Allgemeinen und der aktuell weitverbreiteten, geräuschvollen Abstinenz im Besonderen, kann man sich das kaum vorstellen. So wie es aus heutiger Sicht nicht vorstellbar ist, mit Zehntklässlern eine Brauerei zu besuchen und sie dort mit einem Fass Freibier allein zu lassen.
Im internationalen Vergleich zählt Deutschland noch immer zu den Hochkonsumländern
Die Sauftour im Namen der deutsch-französischen Freundschaft fand im Frühjahr 1990 statt, vor einer halben Ewigkeit also, als das Verhältnis zum Alkohol deutlich sorgloser war als heute und deshalb keine größeren Verwerfungen provozierte. Es wurde mehr getrunken und sich zugleich weniger darüber empört. Denn offenbar scheint die Erregung über Alkoholkonsum negativ mit der im Schnitt konsumierten Menge zu korrelieren: Je weniger gesoffen wird, desto heftiger schäumt die Empörung über den Alkohol.
Im internationalen Vergleich zählt Deutschland zwar noch immer zu den Hochkonsumländern. Doch der Alkoholkonsum hierzulande sinkt seit Jahrzehnten kontinuierlich. 1990 lag der Pro-Kopf-Verbrauch bei 13,4 Litern reinem Alkohol, 30 Jahre später waren es noch zehn Liter. Besonders Jugendliche und junge Erwachsene trinken im Schnitt weniger: Unter den 18- bis 25-Jährigen hat sich der Alkoholkonsum im Vergleich zu den 1970er-Jahren etwa halbiert. Sie greifen auch deutlich seltener zur Flasche als ältere Erwachsene.
Dafür hat sich auf dem Restalkohol eine Schaumkrone der Entrüstung gebildet. Als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kürzlich Zahlen veröffentlichte, wonach die EU im Vergleich zu anderen Regionen weltweit den höchsten Alkoholkonsum verzeichne, hieß es in Beiträgen, Europa trinke sich zu Tode. Ja, Alkohol ist eine gefährliche Droge, deren Missbrauch den Körper zerstört und deren allzu regelmäßiger Konsum Krebs und andere Krankheiten begünstigt, das steht außer Frage. Aber mal ketzerisch gefragt: Wenn sich die Europäer gegenwärtig zu Tode saufen, was haben sie dann vor 20, 30, 40 Jahren gemacht? Ist das „Zu-Tode-Saufen“ retrospektiv noch steigerbar?
Rhetorische Frage natürlich. Was sich hingegen steigern lässt, ist die demonstrative Abstinenz, die in manchen Kreisen wie ein Statussymbol vor sich hergetragen wird. Wer gegenwärtig eine Weile oder sogar für immer darauf verzichtet, Wein, Bier oder andere Alkoholika zu trinken, schreibt ein Buch oder mindestens einen längeren Magazintext über seinen neu gefundenen Weg zu Gesundheit, Tugend und Klarheit. Bei Einladungen, Festen und Veranstaltungen zählt mittlerweile der Alkoholverzicht-Smalltalk fest zu den wiederkehrenden Elementen und hat den Fleischverzicht-Smalltalk fast wortgleich ersetzt: Man trinke ja nur noch sehr selten, und wenn, dann nur bewusst und zu besonderen Anlässen, so die bewährten Konversationshäppchen. Und es gibt ja auch genug gute Gründe, weniger oder gar nicht zu trinken, so wie es auch gute Gründe gibt, in schöner Gesellschaft gelegentlich lockerzulassen und gemeinsam zu zechen.
Aber: Wer heute weniger trinkt, redet dafür mehr darüber und profiliert sich als Mahner und Streiter für die allgemeine Gesundheit. So entsteht der Eindruck, dass der kollektive Alkoholkonsum eskaliert, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Dahinter steckt ein generelles Phänomen, das der französische Gelehrte Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben hat. Demnach verschärft sich Streit über Ungleichheiten beziehungsweise Ungerechtigkeiten in dem Maße, in dem diese seltener werden. Ein Umstand, der als Tocqueville-Paradoxon oder -Effekt bekannt geworden ist und den der deutsche Philosoph Odo Marquard mit den Worten „zunehmende Penetranz der negativen Reste“ schön beschrieben hat.
Fortschritt maskiert sich selbst: Je mehr Menschen es gut geht, desto größer ist also ihre Aufregung über zunehmend kleinere Widrigkeiten. Wer keinen Hunger mehr leidet, kann sich vor Kohlenhydraten fürchten. Wer keine Angst vor tödlicher Willkür haben muss, kann sich das Konzept von Mikroaggressionen ausdenken. Und wenn niemand mehr in einer Gaststätte raucht, fällt es augenblicklich auf, wenn jemand verschämt an seiner E-Zigarette nuckelt. Psychologen haben das Phänomen auch experimentell beobachtet: Je seltener negative Phänomene auftreten – in diesen Versuchen waren zum Beispiel wütende Gesichter oder ethisch fragwürdige Forschungsanträge zu identifizieren –, desto strenger werden die angelegten Bewertungsmaßstäbe. Wenn fast alle lächeln, gilt also schon ein zuvor neutraler Gesichtsausdruck als wütend. Und wenn in einer Runde kaum noch jemand trinkt, wirken die wenigen Gestalten am Bierglas als Problemfälle und als vermeintlicher Beleg dafür, dass sich das Land oder der ganze Kontinent zu Tode trinkt.
Wer kann noch radikaler verzichten, mahnen und warnen?
Diese Eigenart menschlicher Wahrnehmung führt dazu, dass Probleme unlösbar erscheinen und sich vermeintlich stetig verschärfen, wenn das Gegenteil zutrifft. Zusätzlich wirkt der ebenso menschliche Drang, sich zu profilieren und sich von anderen abzugrenzen. Diese Distinktionssucht lässt (oder ließ) sich ausleben, indem man Freunden besondere Weine ausschenkt oder Vorträge über Craft Beer hält. Wenn dann aber die Masse nachzieht und über die Vorliebe für ausgefallene Alkoholika keine Statuspunkte mehr zu holen sind, eröffnet die Abstinenz einen Ausweg aus der Distinktionsmisere. Dann beginnt der Wettbewerb, wer noch radikaler verzichten, warnen und mahnen kann. Wer in diesen Kreisen immer noch ein Bier oder einen Wein bestellt, gerät zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Gleichzeitig sprudelt die kollektive Erregung, und man reagiert so, als würden immer mehr Menschen immer mehr trinken. Das kann anstrengend sein, zumal dann, wenn sich die Dinge allgemein und eigentlich zum Besseren entwickeln.
Beim Gegenbesuch in Frankreich, damals im Sommer 1990, servierte der Bürgermeister des Ortes zum Empfang der bayerischen Austauschschüler übrigens reichlich lokalen Weißwein mit Cassislikör. Außerdem stand die Besichtigung einer Gauloises-Zigarettenfabrik auf dem Programm, deren Produkte anschließend großzügig verteilt wurden. Aus heutiger Sicht: kompletter Irrsinn. Gleichzeitig taucht auch der Gedanke auf, dass das Leben damals manchmal ein klitzekleines bisschen mehr Spaß gemacht hat, weil ein paar weniger Menschen um die Wette vernünftig waren.
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wie kommt diese Diskussion und Meinungsmache bei euch an, würde mich interessieren, weil ich auch zwischen den Stühlen sitze. Soll aber keine negativen Gefühle auslösen oder ähnlichen Kram, wer nicht will muß ja auch nix sagen.
sonnige Grüße und locker bleibn
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Berti