Hallo.
blahwas: Immer mehr kleine Parteien landen in den Parlamenten ... Sorry, nein. Was haben wir denn? FDP - gibt es schon fast immer, die Grünen sind auch seit Ende der 80iger Jahre immer selbstverständlicher dabei; die PDS/ Linke vagabundiert seit Anfang der 90iger Jahre in verschiedenen Parlamenten herum. Und sonst? Die Braunen hin und wieder mit der einen oder anderen Gruppe (REP, Schill, NPD, DVU) und zuletzt hier und da die Piraten oder mal die Freien. Und sonst? Am Anfang des Parlamentarismus nach dem 2. Weltkrieg gab es sogar noch Kommunisten ... Aber eine Zersplitterung der Parlamente ist nicht in Verzug. Ok, wir hatten in den letzten 20 Jahren in 3 oder 4 Fällen ein Minderheitenparlament wegen "zu vieler Fraktionen" in einem unserer Länder; aber die Regel ist das nach wie vor nicht; eine entsprechende Tendenz ist auch nicht abzusehen.
Ich empfehle ernsthaft, dass Du Dir mal alle Wahlergebnisse aller Landtags- und Bundestagswahlen in Deutschland ansiehst. Dann wirst Du sehen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Wahlbeteiligung auf der einen Seite und dem Erfolg der kleinen Parteien auf der anderen Seite gibt. Im Gegenteil - beeindruckend häufig sind gerade kleine Parteien vergleichsweise erfolgreich, wenn die Wahlbeteiligung sogar hoch gegangen ist. Die Zahlen sind bei den Landeswahlleitern, dem Bundeswahlleiter oder - schneller und einfacher - auf Wikipedia verfügbar - man muss sich halt nur mal die Mühe machen, sie sich auch anzugucken. Und nein: Man kann zwar sehen, dass die Großen nicht mehr ganz so viele Prozentpunkte auf sich vereinen, wie damals, als es nur drei Parteien gab; aber eine regelrechte Erosion ist jedenfalls nicht erkennbar und droht auch nicht. Hier wird ein Schreckgespenst vor allem von den Medien und führenden Politikern gezeichnet, ohne dass es kritisch hinterfragt wird.
Was das "Mehr" im Stimmgewicht der Stimmen für die kleinen Parteien bei geringer Wahlbeteiligung betrifft: Das ist nur halb wahr; was der Autor des Artikels, den Du zitierst, nämlich unterschlägt, ist, dass ALLE Stimmen für alle Parteien entsprechend aufgewertet werden. Wenn die Wahlbeteiligung sinkt, gewinnt jede abgegebene Stimme mehr an Gewicht - nicht nur die der kleinen Parteien. Wenn der Autor dann aber noch behauptet, dass die kleinen Parteien an der 5% Hürde wahrscheinlicher diese schaffen würden, wenn weniger Leute wählen gingen, dann behauptet er auch, dass diese Leute eher unwahrscheinlich die kleinen Parteien gewählt hätten. Und das ist schon ganz schön anmaßend und verzerrt das Bild. Das ist so nämlich nicht richtig.
Dass der Journalist zudem das Wahlsystem nicht ganz kapiert hat, wird evident an seiner Aussage, dass die Nichtwähler dann besser irgendeine Spaßpartei wählen sollten. Zum einen ist jede "Spaßpartei" zumindest formell vom Wahlleiter zugelassen worden und erfüllt Mindestanforderung an die Qualitäten politischer Parteien im Sinne des Parteiengesetzes (mag man persönlich von ihnen auch halten, was man mag - OK, jetzt kommt sie wieder, die YOGA oder die POGO Partei; und was ist mit den vielen "ernsthaften" Kleinparteien, die dann gerne nicht erwähnt werden?); zum anderen unterschlägt der Autor eine valide Wahloption, die jeder Wähler hat: Abgabe einer ungültigen Stimme nämlich. Die Wahlbeteiligung steigt dann an; allerdings (!) werden diese Stimmen nicht in das Stimmverhältnis hineingerechnet, sodass alle gültigen Stimmen im Verhältnis zueinander wieder an Wert gewinnen, was im Ergebnis wie komplettes Nichtwählen ist.
Du hast gefragt, warum ich diesen Thread hier überhaupt eröffnet habe. Ganz sicher nicht, um mich und mein Wahlergebnis zu erklären oder zu rechtfertigen. Zu Deiner Information: Ich habe meine vermeintliche Bürgerpflicht per Briefwahl zur Bundestagswahl erfüllt. Ob und was ich gewählt habe, geht niemanden etwas an. Mir ist eben nur wichtig, vor Augen zu führen, dass diese pauschale Verurteilung der Nichtwählerinnen und Nichtwähler eben höchst problematisch ist. Das führt nämlich dazu, dass Leute für politisches Versagen oder das potentielle Versagen eines politischen Systems zur Verantwortung gezogen werden, die dazu keinen Beitrag geleistet haben.
Das ist so, als wenn der, der in einem voll besetzten Fahrstuhl furzt und dann vorwurfsvoll die Frage stellt, wer das denn war? Natürlich wird sich niemand dazu äußern, aber die meisten werden die Schuld von sich weisen, irgendeinen ausmachen, aber vor allem den eigentlichen Furzer automatisch aus ihren Überlegungen herauslassen. Die Nichtwähler wie auch die Wähler sind diese Leute in dem Fahrstuhl, während die Medien und Teile der Politik der tatsächliche Furzer sind; und alle machen den Nichtwähler für den Furz verantwortlich. Und damit habe ich ein Problem. Ein ganz großes Problem.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die Gefahr des Untergangs des Abendlandes und des demokratischen Systems in Deutschland wird nicht durch NichtwählerInnen begründet - zumindest nicht, wenn man den Vorwurf der Korrelation zwischen geringer Wahlbeteiligung und Erfolg von Splitterparteien erhebt, ohne es zu belegen; und wenn man es belegen wollte, würden bisherige Wahlergebnisse diese Theorie widerlegen - und zwar nahezu schulbuchartig. Und nur weil etwas theoretisch denkbar oder möglich ist, wird es deshalb nicht wahrer oder tatsächlicher, nur weil es pausenlos und unreflektiert an allen möglichen Stellen wiederholt wird.
Oben bleiben!
Carlos